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Ein Liebesleben mit der Photographie * INTERVIEW MIT ROSWITHA HECKE *

Im Herbst 2015. Es war an einem Samstag und es regnete. Eine ganze Woche hatte ich mich intensiv darauf vorbereit, das gesamte Oeuvre der Fotografin Roswitha Hecke für ein Interview zu studieren. Es sind mehr als 50 Jahre individuelle Fotografiegeschichte, die es zu erinnern, aufzuarbeiten und zu reflektieren gilt. Hecke begegnete ich das erstedas Mal im Alter von 7 Jahren im Hamburger Stadteil Harvestehude auf einer Ausstellung. Ich sah viel nackte Haut, gedruckt auf feinstem Barytpapier. Das war Irene, die bekannte Prostituierte aus Zürich. Diese und viele weitere Fotoserien faszinieren mich seit jeher. Heckes Werk ist intensiv, ergreifend authentisch und darüber hinaus von hohem, ästhetischem Wert. Zahlreiche Persönlichkeiten, darunter viele intellektuelle Schriftsteller, begleiteten ihre Karriere und standen vor ihrer Kamera. Es ist ein bewegtes Leben, voller Energie und Kraft. Ein Interview, nachdenklich und mit vielen Momenten intensiver Freude.

VON ANDRÉ CHAHIL | Photo © S. Grimsley                                                                                                              

Roswitha, Du bist 1944 in Hamburg geboren und hast hier eine Ausbildung zur Fotografin absolviert …

Nein, ich wollte so etwas ursprünglich nicht machen … ich beschreibe mal wie ich zur Fotografie gekommen bin.

Bitte …

Meine Mutter weckte mich eines morgens zur Schule, wie jeden Tag und ich sagte: „Mama, ich werde Fotografin!“ Ich hatte vorher keine Kamera besessen. Jedenfalls habe ich das als eine Eingebung begrüßt und bin dem nachgegangen. Mein Vater meinte dann zu mir: „Dann kaufe ich Dir eine Kamera“ und da meinte ich: „Nein, die will ich mir selbst verdienen. Ich gehe als Au-pair-Mädchen nach London!“

Obwohl er Dir eine schenken wollte?

Ja, er wollte mir eine kaufen, aber ich wollte aus irgendeinem Grund nach London. Ich war damals noch nie zuvor dort, natürlich. Das habe ich dann auch umgesetzt und bin dann nach Hamburg zurück. Es war die Dunkelkammer, die mich gereizt hat.

In welchem Alter warst Du damals?

Ich war 17.

Und die Schule?

Die Schule war vorbei. Ich hatte eine Fotolehre begonnen mit diesem Portraitmenschen. Das interessierte mich damals überhaupt nicht, Portraits zu machen, weil da kommen ja so spezielle Leute in so’n Laden um sich porträtieren zu lassen. Das hat mich damals absolut null interessiert. Mich hat nur Dunkelkammer interessiert! Und dann habe ich einfach meine eigenen Fotos gemacht, nur für mich … entwickelt und vergrößert. Heimlich natürlich.

Du hast praktisch während der Ausbildung heimlich deine eigene Kunst produziert.

Genau! Durch das selbstverdiente Geld in London habe ich eine gute Rolleiflex Kamera finanzieren können und angefangen zu fotografieren. Das habe ich dann in dieser Weise drei Jahre lang durchgezogen.

Deine Ausbildung fand also in einem Umfeld statt, in der es eine sehr verschulte Idee gab wie Fotos auszusehen haben?

Ja, er machte Architekturfotos und Portraits. Er hatte ein Atelier.

Weisst du denn noch wie dieser hieß?

Glaser. Herr Glaser in Hamburg. Das war nichts besonderes. Es interessierte mich auch überhaupt nicht wer er war und was er machte. Mich interessierte nur für ihn die Sachen zu vergrößern und natürlich dann heimlich dadurch meine eigenen Bilder zu entwickeln. Mich hat der Hafen interessiert. Und meine ersten Fotos sind die Hafenbilder.

Bildschirmfoto 2016-02-03 um 14.03.48

Das war dann ungefähr um das Jahr 1962. An was für ein Hamburg kannst Du dich noch erinnern? Oder: wie fühlte es sich an?

Der Hafen! Ich war schon als Kind heimlich immer zum Hafen gegangen. Das habe ich meinen Eltern, die sehr großzügig waren, nie erzählt. Ich habe diesen Hafen so sehr geliebt. Und nach wie vor … ich war in vielen Städten wo Häfen waren. Ich habe noch nie einen so schönen Hafen erlebt wie in Hamburg. Ob New York, überall … Hamburg hat so einen schönen Hafen!

Der Geist der 60er Jahre. Du warst gerade im besten Teenageralter. Wo hast Du dich in Hamburg bewegt? Es ist ja auch viel wieder aufgebaut worden in dieser Zeit. 

Ich habe in einer schönen Gegend, in der Magdalenenstraße, parallel zur Alster in Pöseldorf gelebt. Da habe ich mich eigentlich viel aufgehalten. Da war die Alster noch wild bewachsen, man konnte da sogar noch darin baden. Ich bin dann mit dem Alsterdampfer auch regelmäßig in die Stadt gefahren. Die Magdalenenstraße … sehr viele Künstler lebten dort!

Dort ansässig sind und waren schon damals die Galerie Brockstedt und die Galerie Levy. Brockstedt förderte u.a. die Karriere des bekannten Grafikers Horst Janssen.

Mit Janssen war ich sogar befreundet. Ich war viel bei ihm zu Hause. Wir waren viel zusammen in der damaligen Zeit. Er hat immer irre viel getrunken! Ich war oft bei ihm in Blankenese und auf seinen Parties. Eine Graphik hat er mir damals auch geschenkt … aber ich kann diese leider nicht wiederfinden.

Kommen wir nochmal zu deiner Teenagerzeit zurück. 1962, da hatte Hamburg die große Sturmflutkatastrophe …

Da war ich gerade in London!

Helmut Schmidt, der damalige Innensenator und spätere Bundeskanzler hat sich mit seinem außerordentlichen Einsatz in die Hamburger Geschichte aufgrund seines Krisenmanagements eingeschrieben. Jahrzehnte später bist Du ihm begegnet und er stand vor deiner Kamera.

Ich habe ihn fotografiert, ja.

Wie war die Begegnung?

Eigentlich ganz ruhig, ganz still. Wir haben kaum geredet. Ich habe Fotos gemacht und bin wieder gegangen.

War das eine Auftragsarbeit?

Ja, für die ZEIT. Ich habe viele Fotos für die ZEIT und das ZEITMagazin gemacht. Da haben wir uns gar nicht groß unterhalten. Das war dem Schmidt so … schnuppe alles. Aber es war auch eigentlich ganz angenehm so … sehr sympathisch und harmonisch.

Die 60er Jahre. Unter anderem auch mit Hamburgs Nachkriegsphase verbunden, gab es noch eine andere Persönlichkeit, einen aufstrebenden Rockstar in der Medienbranche: Rudolf Augstein. Von Dir und Augstein gibt es eine schöne Anekdote …

Lieber nicht. Da wird seine Frau … die weiß von nichts. Ja, er wollte mich mal heiraten, sozusagen. Das darf man vielleicht erzählen. Er sagte immer: „Roswitha, wo willst Du mit mir hin?“ Ich meinte dann zu ihm: „Mit dir will ich nirgendwo hin!“ Ich fand das sehr komisch. Und ich habe irgendwann zu ihm gesagt: „Wenn du mich immer störst und anrufst, dann gib mir wenigstens die neuesten und wichtigsten Nachrichten durch.“ Er ließ einfach nicht locker.

Hattest Du in weiteren Jahren noch mit ihm Kontakt?

Nein. Nachher war er mit einer Galeristin zusammen, die auch mein Projekt Mann für Mann ausgestellt hat, bevor ich nach Marokko zog. Sie hatte eine Galerie am Neuen Wall. Und sie war verliebt in den Augstein, wie verrückt. Sie hat manche Tränen vergossen. Er war schon bei mir so aktiv und ich habe ihr natürlich nie was davon gesagt. Nachher wurde er sehr krank. Und sie hatte auch sowas mütterliches. Ich habe ihm immer gesagt: „Du, die Anna, die liebt dich so sehr“. Und dann hat er sie schließlich auch geheiratet.

Der SPIEGEL veröffentlichte einen großen Beitrag über Günther Grass, der in diesem Jahr verstorben ist. Es gibt ein schönes Foto von Dir. Er raucht an seiner Pfeife, macht sie gerade an. Du hast ihn zusammen mit Michael Naumann und Fritz Raddatz getroffen. Kannst Du dich an die Begegnung mit Grass erinnern?

Ja, die war so locker. Ich habe ihn fotografiert und ihm auch gesagt wo ich ihn gern fotografieren würde und das hat er dann ganz einfach umgesetzt. Es war ganz easy. Das war so ein schönes Treffen mit den Herren. Intellektuell.

Wo hat das stattgefunden?

Bei ihm in der Nähe von Lübeck.

Dieses Jahr ist noch jemand verstorben, den Du ebenfalls vor der Kamera hattest. Omar Sharif, der Hauptdarsteller aus Dr. Schiwago – die Verfilmung von Boris Pasternaks Roman. Hatte Omar Sharif in persona eine ebenso präsente Ausstrahlung wie auf der Leinwand?

Ich war 1981 mit einer Journalistin in Kairo, um etwas über den Bauchtanz zu produzieren. Da gab es ein Hotel, genau an den Pyramiden von Gizeh und das gehörte diesem bekannten Oberoi. Er hatte weltweit Hotels, in New York und in den großen Städten. Der war mit Omar Sharif befreundet. Omar Sharif wohnte bei ihm im Hotel als Bewohner, es war dort förmlich sein Zuhause. Wir haben jeden Abend zusammen gegessen. Es gab immer ein großes Essensgelage und irgendwann habe ich die Vision gehabt, dass die beiden auf dem Bett sitzen und ich sie fotografiere. Du siehst ja wie entspannt die auch da sind. Omar Sharif und ich sind immer viel zu den Bauchtänzerinnen gegangen, haben ewig zugeguckt. Er liebte die. Und die liebten ihn. Die kamen immer vor und haben für uns getanzt. Es war so eine entspannte und besondere Zeit. Sharif war so liebenswert. Er hatte eine so schöne Ausstrahlung!

Jetzt springe ich auf der Zeitachse nochmal etwas weiter zurück. 1978 gelang Dir dann der große Durchbruch mit Irene. Irene war eine Prostituierte in der Schweiz, in Zürich, die Du begleitet und fotografiert hast. Wie bist Du auf sie aufmerksam geworden?

Durch einen Freund von Werner Schroeter. Es gibt einen Regisseur, bei dem ich in Paris viel gelebt habe. Daniel Schmid hieß der. Er lebt leider nicht mehr. War ein enger Freund. Wir waren alle sehr befreundet, besonders Daniel und Werner. Daniel hatte einen Film in der Schweiz gemacht, mit sehr bekannten Schauspielern. In den Bergen irgendwo. Und Daniel Schmid kannte Irene. Die hat uns da mal alle besucht. Ich kannte sie noch nicht. Irgendwann war ich in München, noch mit Wolf Wondratschek zusammen. Meine Pigalle-Serie mit den Transvestiten in Paris war vor Irene. Und da habe ich mal zu Wolf wie aus dem Nichts gemeint: „Du, ich möchte jetzt mal eine richtige Frau fotografieren.“ Dann habe ich Sie einfach angerufen. Habe auch gleich den Plan gehabt nicht nur so ein paar Fotos zu machen, sondern ganze drei Monate habe ich mir für diese Arbeit vorgenommen.

War Irene schon damals eine bekannte Persönlichkeit?

Ja. In Zürich.

Im gehobenem Rotlichtmilieu!

Nein, nicht gehobenem, sie war eine echte Straßenhure! Und das fand ich eben so interessant. Sonst hätte sie mich gar nicht interessiert. Sie liebte die Straße und sich die Männer selbst auszusuchen. Sie war eigentlich eine geborene Hure, im feinsten Sinne. Sie hatte keine Eltern, die haben sich überhaupt nicht für sie interessiert. Und dann hat sie einen schwarzen Zuhälter kennengelernt und der hat gesagt: „Komm wir gehen in eine andere Stadt. Wir machen ordentlich Geld.“ Und dann hat sie sich getrennt von ihm und gemeint sie wolle das ohne einen Zuhälter weitermachen. Von dem hat sie sogar auch einen Sohn, der ist auch in der Publikation abgebildet.

Wenn Du an die erste Begegnung denkst. Wie hast Du sie davon überzeugen können, dass sie das mit sich machen lässt, denn das ist vor allem für die damalige Zeit, etwas außergewöhnliches gewesen. Die direkte Teilhabe an Intimitäten einer völlig fremden Person. Und das mit der Kamera.

Sie hat einfach sofort zugesagt, das war recht unkompliziert.

Wie bekannt oder wie begehrt waren damals schon solche Art von Fotoreportagen?

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Mit Helmut Newton kann man es nicht vergleichen, denn Newton hat die Fotos inszeniert.

Cindy Sherman ebenfalls, in einer anderen Form. Sie hat Foto-Stills produziert. Dieses Phänomen taucht bei Dir besonders in der Serie des New Yorker Polizisten Roy Finer auf, da man das Gefühl hat, dass man einen Ausschnitt von einem Film festgehalten hat. Sherman hat dieses wiederum bewusst gemacht. Sie hat derartige Fotos von vornherein konstruiert. Du hast wiederum Fotos aus der Realität festgehalten, die so wirken als seien es Ausschnitte aus einem Krimi. Fotoreportage, mit viel Ästhetik und realistischem Gehalt. Avantgarde?

Ich habe ihr gleich zu Anfang gesagt: „Irene, in der Zeit darfst Du nicht Anschaffen, denn wir sind jeden Tag zusammen.“ Hat sie auch sofort. Sie hatte Geld. Wir waren jeden Tag wirklich sehr viel unterwegs. Ich wollte nicht, dass sie in der Zeit arbeitet. Und das fand sie auch vollkommen richtig. Eines Tages, ich bin gerade in der Dunkelkammer bei Wolf Wondratschek und vergrößere die Fotos, die ich in Zürich von ihr gemacht habe, ging das Telefon. Irene ruft an und sagt: „Roswitha, an jedem Geburtstag fahre ich mit Castelli – ist ein ganz bekannter Künstler mit dem sie sehr eng befreundet war – nach Rom. Komm Du auch!“ Zwei Tage später war ich in Rom. Ich bin ihr so dankbar für diese Eingebung.

Insbesondere die Rom-Bilder mit Irene wirken in einer Weise, als seien diese Ausschnitte aus einem Fellini-Film …

Fellini, absolut!

Hätte auch in Venedig sein können. Dieses Buch ist in den 80er Jahren mit dem Kodak-Preis ausgezeichnet worden. Ist mehrmals in einer hohen Auflage erschienen und hat sogar seine Reise bis nach Japan angetreten. Es gab sogar eine japanische Ausgabe …

Und Ausstellungen!

In Kyoto?

Ja. Nach der Ausstellung blieb kein Foto übrig, alles verkauft!

Hattest Du das Gefühl, dass die japanische Kunstszene dies damals als Kunst, Nacktheit im ästhetischem Licht, oder es als reine Pornografie aufgefasst hat?

Nicht im Geringsten, die haben das als Kunstform verstanden.

Ich denke jetzt an Nobuyoshioshi Araki, der sehr bekannte japanische Fotograf, der mit Bondage- und Sadomasofotos weltberühmt wurde.

Ja, kenne ich. Die haben da so eine Ader für. Und die ist auch verständlich. Die haben zum Beispiel ein Jahr lang Irene auf dem Cover einer Kunstzeitschrift gehabt. Jeden Monat ein anderes Motiv von ihr.

Hattest Du das damals gefühlt, was da gerade entstand?

Ich habe mir keine Gedanken gemacht. Erotik ist einfach immer. Und dann in der Form, die mit Pornografie nichts zu tun hat.

Meinst Du das Irene verstanden hat was damals entstanden ist, just in time?

Hab ich mich auch nie gefragt. Wir haben es gemacht. Sie wurde einmal interviewt und da hat sie am Schluss ganz stolz gesagt: „Alle reden immer sie machen was und Roswitha und ich wir haben es gemacht.“ Der Satz wird mir nie aus dem Kopf gehen! Irene war ganz simpel, die war wirklich ein Waisenkind. Die Mutter hat sich nicht um sie gekümmert.

Du hattest während der Arbeit schon das Gefühl, dass dort ein sehr vertrauensvolles Verhältnis herrscht. Sie hat sich Dir gegenüber auch komplett offenbart, inklusive ihrer Vergangenheit …

Ja, sie mochte eigentlich gar nicht so viel sagen. Sie hatte eine wirklich traurige Vergangenheit und von der hat sie mir erzählt. Da gibt es ein Foto auf dem sie mit ganz vielen Gläsern an einem Tisch sitzt. Alles Männer. Das war in einem Schloss, da hat mich der STERN hingeschickt. Da gab es eine Weinprobe und die sollte ich fotografieren. Und da habe ich zu Irene gesagt: „Ey, wir haben ein gutes Motiv. Da sind alles nur Männer, wir gehen dahin!“ Meine Auftraggeber wussten natürlich nicht, dass ich Irene da mitnehme. Die Männer hatten sich nur um Irene gekümmert. Die hatte da richtig Spaß mit den ganzen Männern.

Und waren zugleich angetrunken.

Ich glaube die trinken da gar nicht so viel. Die probieren eher.

Dieser unglaubliche Erfolg von Irene. Was meinst Du woran das lag? Ästhetik mit einer Portion Marilyn Monroe-Effekt? Werden bei Betrachter verborgene Sehnsüchte oder gar Ängste geweckt?

Ich glaube alles zusammen. Sie sehen ja auch, dass es mit Kunst zu tun hat und nicht mit Pornografie. Erotik in purer Form. Mit Monroe wurde sie dennoch oft verglichen.

Und das ganze noch verbunden mit einem Gefühl von Freiheit … gar Verletzlichkeit?

Absolut!

Was macht Irene heute?

Irene lebt nicht mehr. Irene hat einen Motorradunfall auf Bali gehabt. Das war ein richtiger Schock für mich damals.

Kommen wir zu einem weiteren Werk: Roy Finer. Da hast Du einen New Yorker Polizisten, in dem damals sehr brisantem Viertel Bronx begleitet. Wie bist Du auf ihn aufmerksam geworden?

Das ist eine sehr schöne Geschichte. Ich war damals mit Wolf Wondratschek in New York und wir beide liebten den Schriftsteller Nelson Algren. Der hat Der Mann mit dem goldenem Arm geschrieben. Der lebte ganz verarmt in New York. Das hatten wir irgendwie erfahren. Wolf und ich hatten einen Kontakt zum Zweitausendeins Verlag. Zu dem ist Wolf hingegangen und hat gesagt er wolle, dass dieser den Nelson Algren verlegt. Der hat dann zugestimmt, er verlegt diesen Nelson Algren. Wir waren anschließend mit Algren befreundet. Dadurch, dass er in Deutschland verlegt wurde, konnte er sich seinen Traum erfüllen. Er war schon sehr alt. Er wollte in Long Island seinen Lebensabend verbringen. Er hat sich eine wunderschöne kleine Wohnung leisten können und lebte dann dort. Wolf und ich haben ihn dort besucht. Wir waren sehr oft zusammen. Anschließend habe ich den Wunsch gehabt einen Detektiv zu fotografieren. Einen Detektiv, wie er in Algrens Büchern vorkam. Nelson hatte aus diesem Milieu viele in seinen Büchern. Ich fragte ihn: „Kennst Du einen Homicide Detective?“ Aus ihm kam sofort: „Jaaaa, Roy!“ Und da habe ich gesagt: „Oh, gib mir die Nummer von Roy.“ Da hat er für mich Roy angerufen. Anschließend haben wir drei Monate eine so schöne Zeit gehabt. Da war ich immer in Begleitung mit Roy und seinem Companion auf Streife.

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Du hast Roy kontaktiert, er hat zugesagt und doch bestimmt auch erwähnt, dass es gefährlich sei …

Nein, ich war ja von ihm beschützt. Ich habe in Soho gewohnt, in New York, wo die ganzen Künstler damals wohnten. Da hat er mich immer mit seinem Auto abgeholt.

Bei der Betrachtung der Serie Roy Finer hat man das Gefühl, als seien es Ausschnitte aus einem Krimi. Unsere heutigen Sehgewohnheiten erlauben es aufgrund der vielen TV-Produktionen, die es seit den 1960er Jahren gibt, es nicht entkoppelt als authentisches Material zu erkennen. Gab es damals so etwas in diesem Umfang bereits?

Ja. Nicht in dieser Art, zwar anders … aber nicht dieser Art. Das Ganze ist schon sehr authentisch.

Gunter Sachs hat zur gleichen Zeit fotografiert, dennoch anders … die Begegnung?

Die Bennents, die Schauspielerfamilie, waren meine besten Freunde. Die Mutter Diane Bennent, Heinz Bennent, Anne und der Trommler David Bennent. Ich habe sehr viel mit denen zusammen gelebt. Die hatten auf Mykonos ein Haus in einer ganz kleinen Bucht. Da war ich sehr oft. Mit Peter Zadek war ich dort und mit Wolf Wondratschek. Jedenfalls war Diane meine allerliebste Freundin und die hatte diesen schwierigen Heinz Bennent. Wir waren unzertrennbar, wir hatten sehr schöne Zeiten. Diane habe ich irgendwann in Lausanne besucht. Dort in der Gegend war ein richtig schönes, kleines Café. Eines Tages saß da Gunther Sachs und er kam auf mich zu und fragte, ob er mich mal fotografieren dürfe. Und da habe ich gesagt: „Ja, kein Problem.“ Da kamen wir ins Gespräch. Wir haben uns ganz lange unterhalten und dann hat er uns beide zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen, da sein bester Freund, ein Bildhauer aus Paris, hinter der schönen Diane her war. Sie wollte aber nichts von dem. Sie wohnte in einem Hof und Sachs Freund ist dann immer an ihr Fenster und hat „Diaaaane“ geschrieen. Nach diesem Essen haben wir ihm erklärt, dass wir woanders hinfahren, in einen kleinen Ort oberhalb von Lausanne. Dort sind wir ein paar Tage geblieben. Tage später klopfte es plötzlich an der Tür und da stand Gunther Sachs mit seinem Freund! Frag mich nicht wie er das herausbekommen hat.

So sehr war er Diane Bennent hinterher …

Nein, meiner Person. Einmal waren wir gerade am Packen und wollten den Bus nehmen. Sachs fuhr uns freundlicher Weise und fragte, ob er mich noch mal wiedersehen könne.

Du hattest kein Interesse an ihm?

Nein. Ich fand ihn wirklich sehr nett, aber es ist so wie mit Augstein. Das war nicht so meine Welt. Aber das war wirklich sehr lustig und es war sehr erstaunlich wie er uns gefunden hat. Wir haben ihm keine Adresse gegeben. Es war schon unheimlich.

Und … was macht Roy Finer heute?

Er lebt leider nicht mehr. Ich hatte eine Roy Finer Ausstellung in der Nord/LB in Hannover. Wir wollten ihn dazu einladen. Die Tochter haben wir aufgesucht und gefunden. Und sie hat uns von seinem Tod erzählt. Das war sehr schade.

Du warst kürzlich in Berlin, dort gab es eine Ausstellung über Pigalle. Rosa von Praunheim trat mit Dir in einen Dialog. Pigalle, eines deiner intensivsten Projekte?

Absolut!

Du hast dich immer sehr in die Situation, in die Biografie und in das Leben deiner Protagonisten hineingelebt. Und wenn ich mir die Bilder von Pigalle betrachte, habe ich das Gefühl, dass es Deine intensivste Erfahrung war.

Außer Irene, das kann man parallel sehen. Das hat mit der Länge auch zu tun, denn in diese Milieus will ich nicht einfach nur hineingehen und dann Tschüß sagen!

Woher kam für Pigalle Dein Impuls, dich in ein so tiefes Rotlichtmilieu von Paris zu begeben? Das Pigalle, welches zwischen dem 18. und 19. Arrondissement in Paris liegt, existiert heute noch. Dort befindet sich auch das legendäre Moulin Rouge. Aber in diesen 1970er Jahren war das ja nochmal ganz extrem, sehr anders …

Die Straße in Pigalle, die ich fotografiert habe, da sind jetzt die reichen Restaurants, die Atmosphäre von früher gibt es nicht mehr. Da sind nur die teuersten Restaurants, japanische und viele weitere. Die Transvestiten gibt’s da nicht mehr. Aber es ist eine schöne Geschichte wie das angefangen hat. Ich habe in Paris gelebt, ich war frisch verliebt mit Wolf Wondratschek und ich habe dann gesagt: „Wolf, ich habe mir vorgenommen in Pigalle mit den Frauen zu arbeiten. Dann kannst Du mich auch nicht besuchen!“ Drei Monate waren das. Das hat er auch durchgehalten. Auch das rechne ich Wolf hoch an. Ich bin dort in die Rue André-Antoine. Ich hatte ein kleines Zimmer dort. In dieser Straße schafften nicht nur die Frauen an, sondern besonders die Transvestiten. Ich war zuerst enttäuscht und beschloss dann die Transvestiten zu fotografieren.

Du wolltest ursprünglich die Frauen vor die Linse haben …

Die Frauen! Und dann habe ich gedacht: Ok, Schicksal … dann fotografiere ich eben euch!

Umso spannender das Ergebnis!

Ja, das war ein richtiges Geschenk! Dann bin ich dort zum ersten mal auf die Straße, in das nächste Café und die saßen alle so da und es herrschte eine gute Stimmung. Ich war natürlich ein Fremder in diesem Milieu. Da traute sich ja sonst keiner rein.

Bist Du aufgefallen?

Ja, als Frau. Da waren nur Einheimische in den Cafés. Da ging kein Tourist hinein.

Bevor Du in die Feinheiten gehst. Wenn ich die Fotos betrachte. Was für ein Gefühl war das? Was für ein Geruch … die Häuser, der damalige Zerfall der alten Gebäude. Wie kann ich mir das vorstellen?

Da war kein auffallender Geruch oder ähnliches. Wenn ich mir vornehme die Leute, die dort anschaffen, zu fotografieren, dann ist meine Konzentration fokussiert. Der Geruch ist dann da, wie es in einer Großstadt dann ist. Was ich noch erzählen wollte … Ich gehe da eben in ein Café, also ohne Kamera, bestelle mir einen Kaffee. Und der Typ, der ist eigentlich so die Hauptfigur da gewesen – das ist ja immer so in solchen Milieus, es gibt immer eine Hauptfigur, der am interessantesten auch war. Dann haben wir uns ein wenig unterhalten und dann habe ich gesagt: „Tschüß, bis morgen!“ Und dann hat er erstaunt geantwortet: „Bis morgen? Das glaube ich dir nicht!“ Und da hatte ich ’ne Kette und die habe ich ihm gegeben und habe nochmal gesagt: „Bis morgen!“ Und dann war ich da drei Monate.

War es in diesem Viertel gefährlich? Gab es Momente der Angst?

Nein, keine Spur von Angst. Das hat mit Gefahr bei diesen Leuten überhaupt nichts zu tun. Das ist deren Revier. Sehr friedvoll. 

Wenn ich mir einige Bilder von Pigalle anschaue habe ich das Gefühl, dass Du eventuell Momente hattest, in denen Du hättest gehen wollen.

Nicht eine Sekunde. Ich hatte damals einen Peugeot 404 und bin ab und an zu meinem Freund dem bekannten Regisseur Éric Rohmer gefahren. Der hat die Fotos von mir gesehen und hat gesagt, dass ich für seinen nächsten Film fotografieren solle. Er hat mir in seinem Büro einen Raum für meine Dunkelkammer gegeben, so dass ich immer regelmäßig Vergrößerungen gemacht habe und bereits während der Phase in Pigalle, diese an die Transvestiten verschenkt habe. Und die waren so glücklich, kannst Du dir gar nicht vorstellen …

Gratis Fotos, fertig entwickelt aus dem Leben heraus.

Ja, das war sehr schön.

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Das war alles vor dem Zeitalter der digitalen Fotografie. Damals war eine Entwicklung inklusive einer Vergrößerung mit sehr viel Aufwand verbunden. Haben jemals Pariser eine Ausstellung gesehen? Gab es eine in Paris mit Pigalle?

Nein. Gute Frage.

Das ist nämlich das Spannende daran!

Ja. Und das Viertel existiert ja auch nicht mehr. Millionäre leben nun dort.

Ich sage nur: Centre Pompidou. Eine Ausstellung ist überfällig. Pigalle! Zurück zu Éric Rohmer. Welche Arbeit hat Euch zusammengeführt?

Die Marquise von O…. (La Marquise d’O), den er in Deutschland gefilmt hat.

Und da hast Du die …

Standfotos gemacht.

Was war Rohmer für ein Charakter?

Einer der tollsten Menschen, die ich je getroffen habe. Von einer Liebenswürdigkeit, einer Genauigkeit und einer Zurückhaltung. In Die Marquise von O…. spielten Bruno Ganz und Edith Clever. Im Film sind alles deutsche Schauspieler. Und Rohmer hat darauf bestanden, dass ich meine Dunkelkammer mitnehme, weil er die Vergrößerungen so schön fand. Da bin ich mit meinem Peugeot 404 dahin und hatte meine Dunkelkammer im Gepäck. Wir haben in einem Schloss gedreht. Wir haben uns alle eng befreundet. Der Néstor Almendros hat den Film gemacht, ein weltberühmter Kameramann. Ich habe mich da nicht wohl gefühlt als Standfotograf.

Nicht wohlgefühlt … weshalb?

Ich hab’s gemacht um einfach Geld zu verdienen.

Vielleicht war es, wenn ich das vorsichtig ausdrücken darf, dass Du dich in deiner künstlerischen Freiheit eingeschränkt gefühlt hast. Es war eine Auftragsarbeit.

Die Atmosphäre hat mir nicht gefallen. Das ist nicht mein Ding. Das ist einfach so’n Job.

Aber es war anders an Peter Zadeks Theater, Du warst viele Jahre an seiner Seite als Theater-Fotografin.

Für Zadek am Theater, da ist es klar, dass ich die Fotos gemacht habe. Wir waren einmal zusammen und befreundet. Das war intensiv und dort waren ganz andere Leute. Für Rohmer habe ich nach dem Dreh ein Buch mit den Bildern anfertigen lassen. Leute in seinem Umfeld berichteten, dass er für eine ganze Weile immer mit dem Buch zu sehen war. Das hat mich so gefreut.

Ein weiterer Regisseur, zwei Jahrzehnte später, Bernd Eichinger. 1996 erschien die Neuverfilmung von Das Mädchen Rosemarie, mit Nina Hoss in der Hauptrolle – nebst Til Schweiger, Heiner Lauterbach und Mathieu Carrière. Wir schauen einmal kurz rein, um es wieder ins Bewusstsein zu rufen … (wir betrachten ein Filmausschnitt) … Kamen irgendwelche Gedanken in Dir hoch?

Ich habe wenig Beziehung zu dem Film.

Und Bernd Eichinger?

Der war wirklich sehr nett. Ihm war es auch ganz wichtig mit den Fotos. Er kam auch oft und hatte dann gefragt, ob ich alles gut aufnehmen konnte. Aber insgesamt … er war das absolute Gegenteil zu Eric Rohmer … mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Bernd Eichinger 1995 by Roswitha Hecke.

Bernd Eichinger * München 1995 * © Roswitha Hecke

Wie ist der Kontakt zu Eichinger entstanden?

Ich war einmal mit Wondratschek in München in einem angesagten Restaurant, in dem sehr viele bekannte Regisseure und Schauspieler verkehren. In diesem Restaurant hingen auch meine Bilder von Irene, so kam ich mit Eichinger in Kontakt.

Es geht ja auch in dieser Produktion um eine Prostituierte.

Die Rolle habe ich ihr aber nicht abgenommen.

Es gibt noch einen weiteren Regisseur, mit dem Du zusammengearbeitet hast. Rainer Werner Fassbinder. Hilf mir mit dem Klischee aufzuräumen. Knartschende Lederjacke, viel Alkohol, Dunst von Nikotin … Kokain?

Peter Zadek hat ihn ins Theater geholt. In Bochum. Er hat dort inszeniert. Er war auch Theaterregisseur. Ich habe für Fassbinder Liliom, nach Ferenc Molnár, fotografiert. Die ein oder andere Geschichte habe ich damals gemacht. Nicht nur für Zadek. Es war das Umfeld und das Wirken des Bochumer Theaters. Soviel habe ich eigentlich nicht mit Fassbinder zusammengearbeitet. Auch keinen seiner Filme fotografiert.

Und Kinski? Bist du dem cholerischen oder dem liebevollen Klaus Kinski begegnet?

Den habe ich ganz privat gesehen. Er war liebenswürdig. Mein damaliger Verleger Thomas Landshoff bei Rogner & Bernhard war mit ihm befreundet …

Rogner & Bernhard hat auch die Erstausgabe von Kinski´s Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund publiziert, die später zensiert worden ist.

Der Kontakt war ganz privat. Ich war auch mit der Tochter befreundet. Pola Kinski, die auch ganz schlecht von ihrem Vater behandelt wurde.

Das ging kürzlich durch die Medien. Es ging dabei um jahrelangen Missbrauch.

Ja. Sie hat ein Buch geschrieben.

Hattest Du damals derartiges schon im Gefühl?

Da wusste ich noch nichts davon.

(Hecke entdeckt während des Interviews eine Fotografie und leitet ein …)

Wie ich zu meinen Themen komme, ist oft so spontan, häufig durch eine Begegnung. Kennst Du die Geschichte mit der Bowery?

Das ist Deine Bowery Street Serie in New York.

Die heißt nur Bowery, nicht Street.

Was hat es damit auf sich? Da hast Du Obdachlose und ein gesamtes Viertel festgehalten. Die 1980er Jahre, New York … why?

Es gibt für mich keine Zufälle, sondern es fällt mir zu. Ich habe damals bei meiner Freundin in der Green Street in Soho gelebt, in der viele Künstler in ehemaligen Fabrikgebäuden lebten. Die Modewelt hat dann das Viertel verändert, zerstört. Es waren diese Riesenlofts, in denen man wohnen konnte. Eines Tages bin ich von Soho nach China Town zu Fuß. Und ich gehe in New York eigentlich fast alles zu Fuß. Da kommst du dann auf die Bowery, kurz vor China Town. Auf der einen Ecke lebte dort der Schriftsteller William S. Burroughs, den ich in seinem Loft fotografiert habe. Vor seiner Adresse wechselte ich den Mittelstreifen und sehe eine Frau am Fenster, ein junges Mädchen, wir hatten Blickkontakt. Ich an ihrem Fenster vorbei und da macht sie es auf und sagt: „I just have a cup of coffee. Do you like to drink a cup with me?“ Und da habe ich ja gesagt, bin zu ihr hoch und sie fragte was ich hier machen würde. Und in diesem Moment sagte ich, dass ich eine Geschichte über die Bowery mache. Es war wie eine Eingebung!

War diese Straße so auffällig?

Die hingen da alle auf der Straße und da gab es eine Salvation Army, in der die Obdachlosen übernachten konnten. Davon gibt es auch Innenaufnahmen. Weihnachten und Neujahr war ich mit denen dann auch zusammen. Über die Obdachlosen habe ich diese Bowery Geschichte gemacht. Das waren teilweise völlig lädierte Männer, die in Vietnam gekämpft haben. Die kamen wieder und waren psychisch vollkommen am Ende.

War diese Intention politisches Engagement? Wolltest Du ein gesellschaftliches Statement setzen?

Das gibt’s bei mir alles nicht. Politisch gibt’s nicht. Aus dem Grund fotografiere ich nicht. Es war geboren und … ich sehe es wie ein Schicksal. Genau wie ich zur Fotografie kam, förmlich über Nacht. So kommen diese Dinge. Sie fragte mich was ich hier mache und es kam einfach so. Ich hab’s mir nicht vorgenommen, überhaupt keinen Hintergrund gesehen. Wenn diese Frau mich nicht zu sich nach Hause eingeladen hätte, wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen. Sie hat ja nicht gesagt ‚Machst Du jetzt hier Fotos?‘ Sie fragte ja ‚Was machst Du hier?‘

Ich frage nur um dein Motiv zu erkennen, denn wenn man Obdachlose in ihrem Elend fotografiert, könne man meinen, es sei journalistischer Natur mit einer Message dahinter.

Es war eine meiner ganz wichtigen Reportagen. Ich sehe da nicht was vorher passiert. Und gegenüber wohnte William S. Burroughs, der berühmte Schriftsteller. Eine einzige Straße, die ist phänomenal. Da stehen diese irren alten Häuser.

Du hast Burroughs und Wondratschek an ihren Schreibmaschinen fotografiert. War der Tastenanschlag bei ihnen ähnlich?

Mit Wolf war ich einige Zeit zusammen und Burroughs hat diese Cut-Up-Methode beim Schreiben erfunden, mitentwickelt. Wolf war von dieser Technik fasziniert …

Schreiben im kubistischem, dadaistischem Sinne …

Ja! Da komme ich in dieses Loft von Burroughs und da fällt mir auf, dass da überhaupt kein Fenster ist. Ein Riesenloft, da konntest du Rollschuh laufen. Und da habe ich ihn gefragt, ob ihn das nicht stören würde, dass er kein Fenster hat. Da sagte er ganz trocken: „You can’t have everything!“

Das ist doch der Wahnsinn. Die Leute sind irre! Und das war genau gegenüber von meiner Freundin. Und unten auf der Straße waren die Obdachlosen. Wolf habe ich oft beim Schreiben zugesehen, wir waren manchmal auf einer Insel, haben etwas gemietet, da hat er dann am Fenster geschrieben.

Die romantische Vorstellung eines freien Autoren bei der Arbeit.

Genau.

Im Laufe deiner Karriere hast Du fast alle Kontinente gesehen. Warst sehr viel auf Reisen, hast sehr viele Persönlichkeiten und Prominente kennen gelernt. Mit denen sogar gelebt. Kannst Du Dich aus diesem halben Jahrhundert an Lebens- und Arbeitserfahrung an einschneidende Erlebnisse erinnern, die Dich in deiner Arbeit, hin zu einer anderen Direktive verändert haben?

Zum Beispiel in Tanger. Dort habe ich den Amerikaner Paul Bowles kennengelernt. Der ist ein weltberühmter Schriftsteller, seine Sachen wurden auch verfilmt. Er war schon sehr alt und es kamen Leute aus Amerika, auch ganz berühmte Fotografen, die an seine Tür klopften. Ein so liebenswerten Menschen. Das war für mich eine sehr große Begegnung.

Vermisst Du etwas an einigen Künstlern? Es gibt so viele Fotografen, besonders seit der digitalen Fotografie …

Überschwemmung. Mir fehlt die eigene Handschrift bei einigen Künstlern.

Zu der Serie Mann für Mann. Zu diesem Projekt hast Du Männer in vielen Ländern mit unterschiedlichen Kulturen fotografiert. Im Einleitungstext der Publikation beschreibst Du, ich zitiere:

„Mich interessiert nicht der Typus Mann, sondern der Einzelne mit seiner Lebensgeschichte. Der Freak, der Androgyne und der Streetworker, der heimatvertriebene Ehemann, mutterlose Knabe und der Macho, wohl der empfindlichste von allen. Ich will keinen von ihnen verunsichern, behutsam sein, niemanden entblößen. Jedes Bild vom Mann ist so echt wie die Vielfalt seiner Erscheinungsformen und so flüchtig wie sein Klischee.“

Roswitha, nach dieser langen Serie: hast Du die Männer anschliessend besser verstanden?

Ich brauche sie nicht zu verstehen. Sie sind wie sie sind. Ich finde eigentlich die Frauen unverständlicher als die Männer. Aber darum geht’s mir gar nicht, sie zu verstehen.

Jemanden oder etwas in seiner phänomenologischen Erscheinungsform festzuhalten und dann nicht zu interpretieren?

Ja. Das liegt mir ganz fern.

Ich bin Kunsthistoriker, ein geschulter Interpret von Bildinhalten, deshalb die Frage. Ist diese berechtigt?

Absolut!

Es gibt ein weiteres Foto, welches mir sehr gefällt. Es ist aus Enna in Sizilien, 1978. Wir sehen Männer auf einer Piazza vor einigen Cafés, die flanieren, die sich unterhalten. Vielleicht ist das sogar in deren Mittagspause. Es könnte auch nach dem Kirchengang gewesen sein.

Ich bin damals mit Peter Zadek in einem Citroën Cabriolet DS 21 gefahren, durch Sizilien. Die Männer sitzen auf der Straße während die Frauen kochen. Keiner hat ja irgendwie ein Getränk da auf dem Bild. In so’m Dorf gab es immer ein Café. Die sind auf der Straße, die Italiener. Ich glaub ganz simpel. Die treffen sich da, die Frauen kochen. Und dann kommt da jemand in so’nem Wahnsinnsauto und macht so’n Foto. Und keiner hat irgendwie ein skeptisches Gesicht verzogen, sondern die freuen sich. Das ist die italienische Gelassenheit.

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Zu guter Letzt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dein ältester Sohn Sahid, Jahrgang 1983, steht heute selbst hinter der Filmkamera und fotografiert. Ein weiter vermittelter Impuls ist offensichtlich. Holt er sich bei Dir Rat oder umgekehrt?

Technische, besonders wenn es um digitale Arbeiten geht, dann hole ich mir bei ihm Rat. Aber auch seine generelle Meinung zu meinen Fotos sind mir wichtig. In ihm habe ich diesbezüglich auch einen verlässlichen Partner.

Wer durfte zuletzt vor deine Kamera? Ein Portrait?

Dominik Wichmann. Er war bis vor kurzem noch Chef beim Stern und davor vom Süddeutsche Zeitung Magazin. Er wünschte, dass ich seine Familie fotografiere. Er hatte ein schönes Motiv im Kopf, welches wir umgesetzt haben. Das war eine schöne Arbeit.

Roswitha … ich danke Dir.

Ich danke Dir!


Ein Auszug des Interviews wurde veröffentlicht im Magazin PHOTOGRAPHIE – 03/2018
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> signierte Werke von Roswitha Hecke < 

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AUSSTELLUNGEN
1978: Galerie Levy, Hamburg | 1980: Fotoforum, Hamburg | 1990: Prince Gallery, Kyoto | 1997: Libro Azul, Ibiza | 1999: Galerie Levy, Madrid | 2000: Kunsthaus Hannover | 2002: Contemporary Art Gallery, Basel | 2002: Speicherstadtmuseum, Hamburg | 2003: Kunstclub, Hamburg | 2005: Aplanat Galerie für Fotografie, Hamburg | 2006: Galerie Molitoris, Hamburg | 2007: Akademie der Künste, Berlin | 2007: Martin-Gropius-Bau, Berlin | 2009: Galerie Burgerstocker, Zürich | 2015: Die Kunstkammer, Gartow.
 
 
 
 
 
PUBLIKATIONEN
Liebes Leben. Bilder mit Irene. Bildband. Rogner & Bernhard, München 1979, ISBN 3-8077-0100-1 | Blott til lyst. bilder med Irene. Sandberg, Oslo 1982, ISBN 82-7316-144-7 | Mann für Mann. Bildband. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-498-02883-9 | Japanische Ausgabe von Liebes Leben. JICC Shuppankyoku. Tokio 1993, ISBN 4-7966-0582-7 | Pigalle. Mit einem Text von Joachim Sartorius. Deutsch und Englisch. König, Köln 2007, ISBN 978-3-86560-162-9 | Secret Views. Fotografien 1964 bis heute. Ausstellungskatalog. Schirmer Mosel, München 2007, ISBN 978-3-8296-0325-6.
 

 

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Andre chahil

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